Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах - стр. 22
[Goethe 1988, I: 180].
Die Unordnung, von der Goethe schreibt, die Entmachtung der Vernunft, zeigt sich auch in Begebenheiten anderer Art, die allerdings meist als Parallelen zu den revolutionären Vorgängen verstanden werden können. Es sind Begebenheiten, die im aufgeklärten Menschen leidenschaftliches Interesse an allem Mysteriösen und Geheimnisvollen wecken. Symptomatisch scheint hier die Figur Cagliostros, die Goethe im „Groß-Cophta“ mit der Erweckung des Dämons der Revolution verknüpft. Auch die geheimnisvollen Geschichten aus den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ heben den irrationalen und unvorhersehbaren Charakter der Revolution hervor [vgl. Conrady 1988: 109].
Das Dämonische erscheint den Menschen als Einbruch der unkontrollierbaren Zufälligkeit und zerstörerischer Kräfte, es ist aber paradoxerweise auch mit einem anderen Konzept des späten Goethe eng verknüpft, nämlich mit dem des Dämons. „Dämon“ bedeutet für Goethe die präformierte und unergründliche Ganzheit der menschlichen Individualität. Er stellt zugleich das Gesetz (also die Ordnung) dar, nach dem die Entwicklung des Individuums abläuft. Der Dämon wie auch das Dämonische wirken unabhängig vom menschlichen Willen und oft sogar gegen ihn. Der Dämon erscheint jedoch nicht als Zufälligkeit, sondern als Prinzip der Gestaltung (Bildung). Er verkörpert das Metamorphosenprinzip im Menschen, das Goethe als die Möglichkeit der Versöhnung von Prä- und Postformationsvorstellungen angesehen hat [Canisius 1998: 114]. Gerade die Metamorphosentheorie nimmt, wenn nicht genetisch, so doch typologisch die darwinsche Evolutionstheorie vorweg. Es gilt, das Verhältnis der Konzepte von Dämon und Dämonischem zu präzisieren, um den Widerspruch aufzulösen; denn wie kann man von der Verknüpfung zweier Konzepte sprechen, die gegensätzlichen Prinzipien zuzuordnen sind?
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, das Verhältnis zwischen den widersprüchlichen Konzepten von Dämon und Dämonischem [vgl. Schulz 1993: 179] näher zu erläutern und die Frage zu beantworten, in welchem Sinn die Französische Revolution für Goethe etwas „Dämonisches“ war.