Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах - стр. 21
Nach Hannah Arendt ist die Revolution ein wesentliches Symptom der neuzeitlichen Geschichte und der modernen Subjektivität. Der Mensch der Moderne ist Revolutionär, der die Welt „nach seinem Bilde“ umbilden will. Im Unterschied zu der politischen Revolution in Frankreich vollzog sich die Revolution in Deutschland hauptsächlich in der Sphäre des Geistes – in der Philosophie, Literatur und Musik. Zum Subjekt der geistigen Revolution und zum Schöpfer der modernen Kultur wurde das Genie. Im Artikel werden die wesentlichen Züge der Genieidee am Beispiel von Hölderlins „Rhein“-Hymne erläutert.
DÄMON UND DÄMONISCHES
Zu ontologischen Vorstellungen im späten goetheschen Weltbild
I. V. KUMICHEV
(Kaliningrad)
Die beiden6 Konzepte des späten goetheschen Weltbildes – das Dämonische und der Dämon (Daimon) – entsprechen auf den ersten Blick oppositionellen Denkfiguren: die erste – der Revolution, die zweite – der Evolution. Wenn der Dämon, „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ („Urworte. Orphisch“ [Goethe 1988, I: 359]), als individuelles Entwicklungsgesetz verstanden werden könne, zeige sich das Dämonische nicht als Gesetz, als die sich entwickelnde Form, sondern als Widerspruch und scheine „mit den notwendigen Elementen unseres Daseins willkürlich zu schalten“ („Dichtung und Wahrheit“ [Goethe 1988, X: 175]).
Goethe spricht vom dämonischen Charakter der Französischen Revolution und des Erdbebens von Lissabon. Er sagt Eckermann, das Dämonische manifestiere sich sowohl in den Begebenheiten, „die wir durch Vernunft und Verstand nicht aufzulösen vermögen“, als auch „in der ganzen Natur, in der unsichtbaren, wie in der sichtbaren“ (2. März 1831 [Eckermann 1987: 439]). Die Verwandtschaft der Revolution mit einem Naturprozess unterstreicht Goethe in „Maximen und Reflexionen“: „Jede Revolution geht auf Naturzustand hinaus, Gesetz- und Schamlosigkeit“ [Goethe 1988, XII: 380]. Wie kann aber die Natur mit der Gesetzlosigkeit der Revolution in Verbindung stehen? „Naturzustand“ bedeutet für Goethe hier das Hinausgehen des Menschen über die Grenzen des Verstandes und der Vernunft bzw. über die Grenzen der Ordnung, worin Goethe eine große Gefahr sah. Wo die Vernunft aufhört, die Situation zu kontrollieren, gewinnt das Dämonische sein Recht. In „Maximen und Reflexionen“ äußert sich Goethe [1988, XII: 379] so: „Es ist besser, es geschehe dir Unrecht, als die Welt sei ohne Gesetz. Deshalb füge sich jeder dem Gesetze“.
In der „Belagerung von Maynz“ (25. Juli) schrieb Goethe ebenfalls in diesem Sinn: „Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen“ [1988, X: 391]. Hans-Jürgen Schings [2009: 62] bemerkt mit Recht, dass man, bevor man diese Aussage – sich über den Kontext hinwegsetzend – als Teil des typischen Diskurses des „Fürstendieners“ kennzeichne, zuerst präziser bestimmen müsse, was der Dichterfürst unter „Ungerechtigkeit“ und „Unordnung“ verstanden hat. Die Aussage Goethes bildet das Schlusswort der Erzählung von der Rettung eines in dem von deutschen Truppen wiedereroberten Mainz eingeschlossenen Revolutionärs, den die Menge zum Opfer ihrer Rache gewählt hat. Die nicht gelungene Selbstjustiz vor dem Quartier des Herzogs beschreibt Goethe als „Unordnung“, die er nicht ertragen kann – deswegen rettet Goethe den ehemaligen Feind. Doch der Volkszorn scheint ihm gerechtfertigt, Goethe nennt die Wut der Menge „höchst verzeihlich[]“ [Goethe 1988, X: 391]. Auch „das schrecklichste aller Ereignisse“, die Französische Revolution selbst, konnte Goethe als gerechtfertigt anerkennen;