Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах - стр. 9
Veselovskij entwickelte seine Historische Poetik, nachdem er einige Jahrzehnte Entscheidendes zur europäischen Märchen- und Mythenforschung beigetragen hatte. Um Parallelphänomene in der Märchenliteratur zu erklären, bediente man sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dreier unterschiedlicher Narrative, die für drei methodologische Ansätze stehen: Entweder wurden Parallelen unter dem Begriff ‚Archaik‘ anthropologisch aus Urformen der Mythologie hergeleitet oder aber geographisch-historisch aus dem Prinzip der ‚Migration‘ erklärt oder schließlich unter der Kategorie ‚Polygenese‘ aus vergleich-baren Entstehungsumständen ohne direkten interkulturellen Kontakt abgeleitet. Egal, welches Narrativ bedient wurde, allen Ansätzen eignet ein universalhistorisch-holistischer Ansatz des Ganzen der Kultur, der eine Ordnungsstruktur eingeschrieben ist, die sich in Evolutionsgesetzen fassen lässt.
Michajlov referiert diesen holistischen Grundzug der russischen Literaturwissenschaft mit einem stillen ironischen Genuss. In allen aktuellen westlichen Diskursen war er derart bewandert, dass er genau wusste, wie sein Zielpublikum auf diesen offen substantialistischen Begriff reagieren musste, dass dessen stets aktive poststrukturalistische Virenscanner auf „das Ganze“ sofort reagieren würden. Dennoch distanziert er sich nicht davon, im Gegenteil. Seine Erzählungen davon, dass im russischen Umfeld „Nur-Germanisten“ kaum gedeihen konnten, dass man als Vertreter viel größerer Einheiten, wie sie Veselovskij und Curtius vorschwebten, sein Fach auch gelegentlich wechseln konnte, indem man zum Beispiel wie Viktor Žirmunskij aus der Germanistik in die Indogermanistik flüchtete, bestätigen den holistischen Ansatz eher.
Noch bei Michajlov gilt also, dass von ‚Evolution‘ nur derjenige reden kann, der die holistisch-metaphysischen Prämissen dieses Begriffs bewusst akzeptiert. Gilt das auch für die klassischen Evolutionstheoretiker, für Ėjchenbaum, Šklovskij, Tynjanov und ihre Mitstreiter? Ich meine, es gilt ganz uneingeschränkt.
In seinem Aufsatz „Theorie der formalen Methode“ von 1925 definiert Ėjchenbaum die sogenannte formale Schule diskurstheoretisch, nämlich über das, was er und andere in den letzten zwanzig Jahren betrieben hätten, oder anders gewendet: über die Evolution der formalen Schule. Im Kern ging es darum, die eigentliche Wissenschaft von der Literatur überhaupt erst zu erfinden oder doch zumindest neu zu definieren. Das geschah über die Definition des Gegenstands der Literaturwissenschaft, nicht über ihre Methode. Der Gegenstandsbereich formaler Literaturwissenschaft ist ein doppelter. Einerseits liegt er in der artifiziellen Gemachtheit des poetischen Texts, in seiner Literarizität und Ästhetizität. Das hat nur indirekt mit Evolution zu tun. Der zweite Gegenstandsbereich liegt in einer neuen Art, Literaturgeschichte zu konstruieren. Was unterscheidet die „literarische Reihe“ [Ėjchenbaum 1965: 14] von anderen Reihen kulturgeschichtlicher Fakten, so lautete die zentrale Frage. Dass die universalgeschichtliche Betrachtung der Kultur als Ganzer unauflöslich mit der Literaturgeschichte verwoben sei, wurde im Sinne Veselovskijs wie der deutschen Kunstwissenschaft Wölfflins und anderer ausdrücklich anerkannt [vgl. Ėjchenbaum 1965: 13, 10]. Nur sei dieses Ganze Gegenstand eines großen Ensembles von Wissenschaften,