Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах - стр. 10
In seinem Aufsatz „Theorie der formalen Methode“ von 1925 definiert Ėjchenbaum die sogenannte formale Schule diskurstheoretisch, nämlich über das, was er und andere in den letzten zwanzig Jahren betrieben hätten, oder anders gewendet: über die Evolution der formalen Schule. Im Kern ging es darum, die eigentliche Wissenschaft von der Literatur überhaupt erst zu erfinden oder doch zumindest neu zu definieren. Das geschah über die Definition des Gegenstands der Literaturwissenschaft, nicht über ihre Methode. Der Gegenstandsbereich formaler Literaturwissenschaft ist ein doppelter. Einerseits liegt er in der artifiziellen Gemachtheit des poetischen Texts, in seiner Literarizität und Ästhetizität. Das hat nur indirekt mit Evolution zu tun. Der zweite Gegenstandsbereich liegt in einer neuen Art, Literaturgeschichte zu konstruieren. Was unterscheidet die „literarische Reihe“ [Ėjchenbaum 1965: 14] von anderen Reihen kulturgeschichtlicher Fakten, so lautete die zentrale Frage. Dass die universalgeschichtliche Betrachtung der Kultur als Ganzer unauflöslich mit der Literaturgeschichte verwoben sei, wurde im Sinne Veselovskijs wie der deutschen Kunstwissenschaft Wölfflins und anderer ausdrücklich anerkannt [vgl. Ėjchenbaum 1965: 13, 10]. Nur sei dieses Ganze Gegenstand eines großen Ensembles von Wissenschaften,3 die jedoch aus den möglichen Reihenbildungen kulturgeschichtlicher Fakten ihre jeweils eigene klar ausdifferenzieren müssten, um sich disziplinär voneinander zu unterscheiden. So gesehen postulierte Ėjchenbaum zu seiner Zeit genau das Gegenteil von dem, was wir als „cultural turn“, als transdisziplinären Zusammenschluss von Wissenschaftsdisziplinen zunächst gefeiert, dann aber eventuell im Zuge der „Rephilologisierung“ verworfen haben.
Die literaturgeschichtliche Reihe repräsentiert nach Ėjchenbaum und Šklovskij die „literarische[] Evolution“, die aus der „Dynamik der Gattungen“ hervorgeht, die sich in einem Prozess von Kanonisierung und Entkanonisierung unausgesetzt dialektisch neu erzeugen [vgl. Ėjchenbaum 1965, 47]. Was sich zunächst so phänomenologisch ausnimmt, ist aber im Kern holistisch gemeint: „Uns kommt es darauf an, in der Evolution Anzeichen für eine geschichtliche Gesetzmäßigkeit aufzuspüren“; es geht um „das Problem der Evolution außerhalb der Person, [um] die Bestimmung der Literatur als eines eigentümlichen Sozialphänomens“ [Ėjchenbaum 1965: 48]. Und so greift die neue Literaturwissenschaft doch wieder in das große Ganze der Menschheitsgeschichte aus.