Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах - стр. 8
Nur einige Jahrzehnte später differenziert sich aus der Universalgeschichte die Kunst- und Literaturgeschichte aus, doch das holistischmetaphysische Erbe bleibt auch dieser unverändert eingeschrieben. In seiner Abhandlung „Begriff einer Geschichte der Kunst und ihre Beziehung auf die Theorie“ von 1801/02 wiederholt August Wilhelm Schlegel fast wörtlich Herders Emphase: „Folglich ist alle Geschichte Bildungsgeschichte der Menschheit“. Geschichte sei „Evolution des menschlichen Geistes“, sie zeuge von einem „unendliche[n] Fortschritt“, der sich aber nur bei der Betrachtung des Ganzen zeige. Es gelte: „nur im Ganzen darf die Beziehung auf eine Idee liegen“ [Schlegel, A. W. 1975: 68].
Zwei Jahre später beschwört Friedrich Schlegel in seinem Aufsatz „Geschichte der europäischen Literatur“ deren inneren organischen Zusammenhang:
Dieser außerordentliche Umfang [der europäischen Literatur] macht die IDEE DES GANZEN notwendig […]. Die europäische Literatur bil-det ein zusammenhängendes Ganzes, wo alle Zweige innigst verwebt sind, eines auf das andere sich gründet, durch dieses erklärt und ergänzt wird. Dies geht durch alle Zeiten und Nationen herab bis auf unsere Zeiten. Das Neueste ist aber ohne das Alte nicht verständlich [Schlegel, F. 1975: 78].
Man meint, hier bereits Ernst Robert Curtius zu hören:
Die europäische Literatur ist der europäischen Kultur zeitlich koextensiv, umfaßt also einen Zeitraum von etwa sechsundzwanzig Jahrhunderten […]. Man erwirbt das Bürgerrecht im Reiche der europäischen Literatur nur, wenn man viele Jahre in jeder seiner Provinzen geweilt hat und viele Male die eine mit der anderen vertauscht hat [Curtius 1978: 22].
In den 1990er Jahren unternahm es Aleksandr Michajlov, dem westeuropäischen, speziell dem deutschsprachigen Publikum die russische Literaturwissenschaft zu erklären. Sein Ansatz war überaus subtil. Sein Bericht „Zum heutigen Stand der Germanistik in Rußland“ von 1995 beginnt unter der ersten Zwischenüberschrift „Das Ganze […]“:
Man versteht das Wissen in Rußland gern als ein Ganzes und legt deswegen einen besonderen Wert auf das Fachübergreifende […] Man verstand und versteht noch das Ganze des Wissens […] als ein „organisches“ Ganzes (ein in der russischen Philosophie an der Wende zum 20. Jahrhundert besonders arg strapazierter Begriff), der in sich selbst besteht […] [Michajlov 1995: 188].
Das trifft ganz und gar auf den Gründungsvater der russischen Komparatistik, die methodisch in viele Einzelphilologien ausstrahlte, zu, nämlich auf Aleksandr Veselovskij. Seine