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Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах - стр. 5

‚Evolution‘ hingegen gehört zu jenen in der Sattelzeit neu entstehenden Begriffen, die die Last der metaphysisch-ontologischen Tradition, die man eigentlich abwerfen wollte, in einem modernen Begriffsdesign fortschrieben. ‚Entwicklung‘ und ‚Entfaltung‘ sind ohne metaphysische Fundamentalannahmen gar nicht denkbar. Was sich entwickeln, entfalten soll, muss der Essenz nach bereits wesenhaft vorhanden sein, wie Sartre gesagt hätte. Das gilt für den Samen der Pflanze wie für die Individualität des Individuums. Der Keim trägt bereits das Programm, nur blendet die Moderne die alten Fragen aus, wer dieses Programm dort eingeschrieben hat und zu welchem Zweck, nach welchem Plan.

3. Geschichtsphilosophie

Im Bereich der Geschichtsphilosophie lässt sich kurz zeigen, dass mit der Wahl zwischen den Prinzipien von ‚Revolution‘ und ‚Evolution‘ auch in der Moderne gänzlich unterschiedliche Weltzugänge oder Weltdeutungsmuster verbunden sind. Wir wenden uns zur Verdeutlichung Goethe zu:

es liegt nun einmal in meiner Natur, ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen [Goethe 1987, I/33: 315].

Zuletzt hat Gustav Seibt [2014] in seinem Buch Goethe in der Revolution alle historischen Bezüge entfaltet, die diesem berühmten Diktum aus Goethes Belagerung von Mainz eingeschrieben sind. Genau betrachtet, betrifft jedoch vor allem der erste Teil, das Begehen einer Ungerechtigkeit, die Sphäre des Geschichtlichen oder Politischen, die Goethe als nicht mehr steuerbaren Ausbruch von Partikularinteressen, als Wüten individueller Egoismen und demagogisch verführter Köpfe auffasste; dort konnte, ja musste „Ungerechtigkeit“ geschehen. Der zweite Teil aber, die Nichtanerkennung von „Unordnung“, meint hingegen das Übergeschichtliche, die alles durchdringende Ordnungsstruktur der Welt oder der „Natur“, deren gesicherte Existenz Goethe unter gar keinen Umständen ableugnen wollte.

Diese Ordnungsstruktur der Natur war in der Vormoderne immer auf ihren Schöpfer zurückgeführt worden, ganz egal ob man Gott als großen Baumeister und Ingenieur verehrte – man denke an die Uhr im Straßburger Münster – oder sich in der Physikotheologie dem „irdischen Vergnügen in Gott“ [vgl. Brockes 1721–48] hingab, indem man die Natur als zweites Buch Gottes las. Die moderne Reformulierung dieses Problems lernten Goethe wie seine Zeitgenossen von Spinoza, der in seiner Formel „deus sive natura“ Gott in ein philosophisches Prinzip verwandelte, in die wirkende Kraft in der Natur, die „natura naturans“. Ihre vormodern-metaphysische Problemlast hatten diese neuen Begriffe keineswegs abgeworfen, doch versprach ihr modernes Design, die alten metaphysischen Fragen wenigstens verschatten zu können. Das war die Art protestantischer ‚Privatreligion‘ (Goethes eigener Begriff: „Christenthum zu meinem Privatgebrauch“ [Goethe 1987, I/28: 306]), die schon Lessing für sich in Anspruch genommen hatte, als der das anthropomorphe Wesen, das im Himmel säße und auf die Menschlein herabsähe, als religiöse Zumutung abwies. Identifizieren konnte er sich hingegen mit Spinozas philosophischer Schwundstufe, mit einem Numinosen als wirkender Kraft, und meinte, damit auf dem Weg der Selbstbeschreibung der Vernunft im Projekt der Aufklärung einen großen Schritt weitergekommen zu sein. Auch für Goethe bleibt dieses salonfähige Numinose Spinozas letzter Garant einer Ordnungsstruktur in der Natur, ohne die ‚Evolution‘ nicht denkbar wäre.

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