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Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах - стр. 4

Unter dem Einfluss von Charles Darwins On the Origin of Species von 1859 tritt der Begriff aus der Sphäre der Individualgeschichte in die Menschheitsgeschichte über, aus der Ontogenese in die Phylogenese. ‚Evolution‘ meint hier die ‚stammesgeschichtliche Entwicklung der Lebewesen von niederen zu höheren Formen‘, mithin eine Entwicklung, der eine spezifische Logik zugrunde liegt, nämlich die des linearen Aufstiegs, des Fortschritts.

Eine solche Entwicklungslogik hatte bereits die frühe Geschichtsphilosophie der Aufklärung der Entwicklung des Menschengeschlechts unterlegt, und zwar als Prinzip der Vervollkommnung, der Perfektibilität in teleologischer Auslegung. Dieser Hintergrund eröffnet die Möglichkeit der Übertragung von ‚Evolution‘ im vordarwinistischen und dann im darwinistischen Sinne auf die Bereiche von Kultur, Gesellschaft und Geschichte. Ein langsames, bruchloses und vor allem lange währendes Sich-Entfalten ließ sich schon im 18. und dann darwinistisch modifiziert seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ‚Evolution‘ beschreiben. Erst in dieser Sphäre und dieser Bedeutung tritt ‚Evolution‘ in Opposition zu ‚Revolution‘, wie wir bereits gesehen haben. Nach der Oktoberrevolution in Russland und der Novemberrevolution in Deutschland erklärte Gustav Stresemann 1919 in seiner Redensammlung Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles: „die entwicklung zum besseren [durfte] nur den weg der evolution, niemals den weg der revolution gehen“.

In der Geschichte beider Begriffe fällt auf, dass ‚Revolution‘ wie ‚Evolution‘ ihre modernen Begriffsinhalte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erhalten, also in der Phase, die die Bielefelder Historikerschule um Reinhart Koselleck als die „Sattelzeit“ um 1800 beschrieben hat, in der vormoderne in moderne Gesellschaftsformen übergehen. Die Modernität beider Begriffe – und das ist entscheidend – stellt sich aber ganz unterschiedlich dar. ‚Revolution‘ ist insofern wahrhaft modern, als der Begriff eigentlich eine Leerstelle bezeichnet, die dort entsteht, wo alte metaphysisch-ontologische Deutungsschemata nicht mehr greifen. Das Erdbeben von Lissabon 1755 war noch metaphysisch-theologisch interpretierbar gewesen, ja das Ereignis befeuerte geradezu die philosophische Diskussion: Die Theodizee-Frage wurde neu diskutiert; Voltaire verspottete Leibniz und sein Theorem der „besten aller möglichen Welten“; Rousseau und Voltaire stritten über den Optimismus et cetera. Die Französische Revolution hingegen fand statt am Ende des Jahrhunderts der Aufklärung, das fortwährend Metaphysikkritik unter dem Label der Vorurteilskritik betrieben hatte. Die sich brachial in der Tagespolitik entladende Gewalt war 1789 weder in die theologische Providentia-Lehre, also in den weisen Plan Gottes, noch in ein geschichtsphilosophisches Fortschritts- oder Perfektibilitätsmodell zu integrieren. Im Gegenteil: Geschichtsphilosophie musste erst neu erfunden oder vom idealistischen Kopf auf die materialistischen Füße gestellt werden, um Revolutionen sinnstiftend in eine neue metaphysische Ersatzreligion integrieren zu können. Zusammenfassend: Im Umfeld von 1789 meinte ‚Revolution‘ das aus jeder Ordnung Herausfallende, sich jeder Sinnstiftung Entziehende – und war in diesem Sinne geradezu dekonstruktivistisch modern.

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